Zwei Schienen
2012
Foto 1 von Michel Bonvinkl
Foto 7+8 von Dr. Nagorsni
Textarbeit im Rahmen des temporären Ausstellungsprojektes:
Gleisdreieck Berlin / Kunst im öffentlichen Raum
Park am Gleisdreieck, Ostpark und Ladestraße des Deutschen Technikmuseum
(kuratiert von Eggs/Bitschin)
Montage eines 2 x 20 m langen Kupferbandes mit ausgestanztem Schriftzug
Eröffnung: 20. Juli 2012 um 20 uhr
Treffpunkt Infopoint des Technikmuseum, Eingang Gleispark Ost
www.gleisdreieck-blog.de
Dauer der temporären Ausstellung: 21.07. - 23.09.2012
Zu Beginn der zwanziger Jahre war das Gleisdreieck ein hochmoderner, städtischer Verkehrsknotenpunkt, der als Sinnbild der Moderne gefeiert und zugleich verdammt wurde. Joseph Roth schwärmte in seinen Bekenntnissen zum Gleisdreick vom großartigen Tempel der Technik unter freiem Himmel. Jacob van Hoddis schrieb von Eisenbahnen, die von den Brücken fallen. Walter Benjamin spricht in seinem Buch „Berliner Kindheit“ von der Mutterhöhle der Eisenbahnen.
Im Dritten Reich befand sich in der Nähe des U-Bahnhofs Gleisdreieck die Schaltzentrale nationalsozialistischer Repressions- und Verbrechenspolitik. Vom Anhalter Bahnhof reiste man nach Wien, Rom und Athen und zugleich wurden von hier aus Tausende von Menschen jüdischer Herkunft in das Transitlager Theresienstadt und die osteuropäischen Vernichtungsstätten deportiert.
Der Zeit-Autor Michael Sontheimer charakterisiert das Gebiet um das Gleisdreieck so: "Die Gewalt, die von diesem Grund ausging, ist schließlich auf ihn selbst zurückgeschlagen". Für ihn gibt es "keinen Ort in Deutschland, auf dem so bleiern nationale Symbolik lastet wie auf der Brache rund um den Potsdamer Platz".
Die Arbeit zwei Schienen reagiert auf diese Ambivalenz mit einer Textarbeit von Worten in Frakturschrift (die im Nationalsozialismus zeitweilig zur deutschen Schrift deklariert wurde), auf einem zehn Meter langen stillgelegten Gleisabschnitt.
Zwei Kupferbänder werden auf je eine Schiene montiert, die durch ihre ausgestanzten Buchstaben einen Textzug in Frakturschrift freilegen, dessen Ursprung aus literarischen Quellen stammt. Die Worte werden versetzt auf die Gleise appliziert, so dass der Leser/Betrachter die Textzeilen erst dann zusammensetzen kann, wenn sein Blick von Gleis zu Gleis springt. An einigen Stellen verschwinden die Worte unter der wuchernden Vegetation, an anderen sind sie frei zu lesen. Das Verschwinden und Wiederauftauchen der Worte thematisiert das Erinnern als Unschärfe.
Quellen:
Herta Müller
Ich weiß du kommst wieder aus: Atemschaukel
Jacob van Hoddis
Der Engel schweigt / Die Lüfte ziehn wie krank. aus: Der Todesengel (IV)
Die Eisenbahnen fallen aus: Weltende
Rose Ausländer (Gedichtband: ich spiele noch)
und sangen ein Todesgebet aus: meine Toten schweigen tief
Wangen margeritenweiß aus: meine Toten schweigen tief
Mondlied trifft mein Herz aus: der Traum lebt mein Leben zu Ende
Mein Heimweh ist ein Stacheltier aus: meine Toten schweigen tief