Opernskulptur „Dorle“
Matthias Bleyl
Der von Christine Berndt auf ihre multimediale Performance und Installation geprägte Begriff der Opernskulptur erscheint im ersten Moment widersprüchlich. Eine Skulptur ist nach herkömmlichem Verständnis das Ergebnis eines subtraktiven bildhauerischen Verfahrens, z.B. ein behauenes Stück Holz oder Stein, wobei im neueren Sprachgebrauch auch ein weiter gefasstes dreidimensionales Werk, z.B. eine gesamträumliche Installation, damit gemeint sein kann. Eine Oper ist dagegen, spätestens seit den Bemühungen Richard Wagners, ein raumzeitliches Gesamtkunstwerk in der Verbindung von szenisch präsentierter Sprache, Musik und Bühnenbild – das, ähnlich wie eine Installation, malerische wie dreidimensionale Elemente einschließen kann. Ein multimedialer Charakter liegt also sowohl der herkömmlichen Oper als auch „Dorle“ zugrunde, doch ist die hierauf angewendete Kombination der beiden Begriffe Oper und Skulptur so ungewöhnlich wie erklärungsbedürftig.
Die Opernskulptur „Dorle“ besteht aus verschiedenen multimedialen Komponenten, die sie sowohl mit der Oper als auch mit der Skulptur, in einem weiteren, installationsbezogenen Sinn, gemeinsam hat. Da ist zunächst die ehemalige „Führungsstelle Schlesischer Busch“, ein alter Grenzwachturm von minimalisierter Formensprache, also eine ausgediente, vergleichsweise klein dimensionierte, wenig anspruchsvolle Zweckarchitektur, kaum mehr als ein schlichter Kubus. Er ist im unteren Bereich weitgehend geschlossen, mit wenigen zunächst winzigen, weiter oben geringfügig größeren Öffnungen, gefolgt von glatten Flächen, und ist erst oben, in der sogenannten Freiwache, durch Fensterbänder geöffnet, von denen aus der Grenzstreifen kontrolliert werden konnte. Die wenig ausladenden Anbauten im Untergeschoss sind ebenfalls rein zweckgerichtet, etwa als Arrestzelle. In diesem Untergeschoss wurden Ton- und Bildauszüge von Wochenschauen der Jahre 1942 bis 1945 so auf den Boden nahe der Eingangstür projiziert, dass der Besucher diese betreten und durchqueren musste, wenn er zum Aufgang in die oberen Stockwerke gelangen wollte. Der Zugang hierhin war nur über enge, sehr steile Metalltreppen möglich, wie überhaupt die relative Enge des Inneren der ganzen Opernskulptur eine Dimension verlieh, die der Besucher als angstvoll wahrnehmen musste; der etymologische Zusammenhang der Wörter Enge und Angst ist bekannt. Im fensterlosen, bis auf einen diffusen Lichtbereich nahe dem Aufgang zum durchlichteten Obergeschoss dunklen Zwischengeschoss lief von einer Ecke ausgehend von rechts nach links über eine ganze Wand das von Lücken durchsetzte, horizontale, rote Schriftband mit Tagebuchaufzeichnungen der Protagonistin Dorle, die in der nächsten Ecke umbrachen und kontinuierlich nach links weiterliefen, um in dem von der Treppenöffnung her auf die Wand fallenden, diffusen Lichtreflex ganz links zu verschwinden. Im durchfensterten, hellen Obergeschoss befand sich auf dem Boden eine sternförmige lineare Markierung, die im Mittelbereich eine achtzackige Matte als Aktionsfläche der Sängerin/Instrumentalistin bei der Uraufführung bildete. Die von ihr ausgeführte Komposition für Bassflöte von Helmut Oehring, durchsetzt mit Sprachfetzen nach den Tagebuchaufzeichnungen und den zum Spielen des Instruments nötigen Atemgeräuschen, die ebenfalls die angstvolle Stimmung beförderten, wurde später hier eingespielt. Mit der Flöte wurden eher statische, fahle Klänge erzeugt, die eindringlich die Ausweglosigkeit der Situation Dorles widerspiegeln konnten. Im dunklen Mittelgeschoss mischten sich die nur leicht gedämpften Geräusche und Sprachfetzen der Klanginstallationen von Unter- und Obergeschoss und bildeten einen durchwobenen Klangraum für die Sprachprojektion an den Wänden, wo an mehreren Stellen das Wort Angst auftauchte, über deren Gründe Dorle reflektierte.
Die Uraufführung am 6. Mai 2008 fand als Performance von Sonnenuntergang bis in die Dunkelheit hinein statt, wobei die im Obergeschoss des Wachturms allein agierende Sängerin/Instrumentalistin über vier Kameras aus verschiedenen Richtungen aufgenommen und freihändig, also nicht völlig statisch, auf die vier Außenseiten der noch dunkel als schwere Form gegen den Abendhimmel aufragenden Architektur projiziert wurde. Die Aufführende war dort, im Außenbereich, also zu sehen wie zu hören, wobei die Projektion mit zunehmender Dunkelheit deutlicher wurde, die Architektur dagegen mit der Dunkelheit zurücktrat und die Projektionsfläche transparenter, also körperloser zu werden schien. Dabei erfolgte die Projektion lückenlos, also jeweils flächenfüllend, von Kante zu Kante, über die ganze Breite des Turms, so dass ihn ein geschlossenes Lichtband zu umziehen schien. Allerdings erfolgte sie freihändig, da die Beamer nicht von festen Gestellen, sondern von Helfern getragen wurden, so dass sich die Bilder geringfügig bewegten. Gegenüber dem festen Gebäude ergab sich also ein geradezu „lebendiges“ Lichtband, dessen geringfügige Bewegungen Projektion wie Projiziertes umfasste und der Opernskulptur die blockhafte Schwere teilweise nahm. Dorles Geschichte trat bei der Uraufführung in Form dieser Projektion der Performance nach außen, während sie sich später an etwa gleicher Stelle, nur jetzt im Inneren, im Dunkel des Mittelgeschosses, in Form des Schriftbands konzentrierte. Der objekthafte Turm – immerhin ein authentisches Relikt aus der Zeit, in die auch Dorles Biografie fiel – konnte vom Besucher als ganzkörperlich erfahrbares Bühnenbild durchschritten und erlebt werden. Da die Treppen aber immer nur von einer einzelnen Person genutzt werden konnten, verstärkte die Einzelbegehung das Gefühl der Einsamkeit, das sich in der Opernskulptur insgesamt vermittelte. Erst im durchfensterten Obergeschoss, von dem aus sich der freie Blick nach draußen bot, konnte sich wieder eine versöhnlichere, zukunftsoffenere Stimmung einstellen. Während ein herkömmliches Bühnenbild vom Operngänger nicht betreten, nur von außen und auf Distanz gesehen werden und nur von den Darstellern bespielt werden kann, was bei „Dorles“ Uraufführung prinzipiell ähnlich war, bot der relativ klein dimensionierte und damit unmittelbar auf den Besucher beziehbare, von ihm geradezu haptisch erfahrbare Turm einen begehbaren Bühnenraum, der ihn direkt in den Inhalt integrierte und Dorles Geschichte unausweichlich und geradezu hautnah vergegenwärtigte. Denn hier, im Mittelgeschoss, wurde er mit der ja auch der herkömmlichen Oper oft zu eigenen Konfliktsituation der Protagonistin konfrontiert. Das dort projizierte Tagebuch enthält Dorles bis fast an den Wahnsinn grenzende, vierfache Ich-Befragung, nämlich die Zeit vor ihrer Inhaftierung wegen versuchter Republikflucht, die Zeit in der Haft, in der sie die Vergangenheit ihres konvertierten Vaters einzuholen schien, die Zeit nach der Haft, als sie als konforme IM aktiv wurde, und die Zeit nach der Wende, als dies aufgeflogen war. Dorles quälende Ich-Befragung überspannte und verwob also mehrere Vergangenheitsphasen ihres Lebens, die im Zusammenwirken von Schrift, Sprache, Musik, Klang und Licht ko-präsent waren und nur in einem solchen ganzheitlichen, installativen und opernhaften Gesamtkunstwerk, eben einer Opernskulptur, ihre eindringliche Wirkung voll und ganz, mit unausweichlicher Präsenz, erzeugen konnte.