Christine Berndt
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„Bodenarbeit_ Kein ernst zu nehmender Mensch leugnet Auschwitz"
Dr. Leonhard Emmerling

Es gibt gute Gründe, an der Gesichertheit historischer Erkenntnis zu zweifeln. Nicht nur ist zu bezweifeln, dass aus irgendwelchen geschichtlichen Tatsachen diese oder jene Schlussfolgerungen zu ziehen und auch gezogen worden wären; vielmehr ist daran zu zweifeln, dass die Geschichtswissenschaft (jenseits aller Fragen nach der Quellenlage) überhaupt imstande ist, geschichtliche Tatsachen zu rekonstruieren. Wahrscheinlicher ist, dass sie diese Tatsachen entwirft in einem Akt perspektivisch gebundener Reaktivierung gewisser für das Heute relevanter historischer Details. Was Geschichte sein oder gewesen sein mag, ist unter dem Bretterwerk fragmentarischer Splitter weder mit Sicherheit auszumachen noch gar als Geschlossenes zu retten. Zu retten ist es nur als Partikulares; wobei zu fragen ist, ob denn die Gegenwart uns anders gegeben ist denn als Partikulares.
Wie auch immer diese Fragen zu beantworten wären: Christine Berndt beschäftigt sich in den hier behandelten Arbeiten mit dem allmählichen Verschwinden des dunkelsten und schwierigsten Teils der deutschen Geschichte, der Nazi-Zeit. Es ist, als diffundierten selbst die gröbsten Fakten dieser Zeit im Gewirr der Deutungen unter dem Diktat der Entlastung oder Schuldklärung, im Sprachengewirr der Disziplinen, in der missverständlichen und missverstandenen Rede und Gegenrede, im Wust sich künstlerisch aufführender Instrumentalisierungen, die doch, wie dies alle kapitalistischen Operationen tun, nur auf ethische Neutralisierung zielen.

In einem privaten Nachlass fand Christine Berndt die maschinenschriftliche Transkription eines Briefes, den eine Bewohnerin des Ghettos von Tarnopol (heutige Ukraine) an ihre Verwandten richtete. Die Urheberin des Briefes konnte nach umfangreichen Recherchen als eine Salomea (Shlomit Rahel) Ochs, geb. Luft ermittelt werden. Aus nicht geklärten Gründen gelangte der ursprünglich zwölf handschriftliche Seiten umfassende Brief in die Hände eines russischen Offiziers, der ihn wiederum an einen Offizier der deutschen Wehrmacht, einen Oberst Dr. Abel, übergab, welcher die Transkription veranlasste und diese dem Wehrmachtsgeneral Dr. Korfes übergab.
Der Brief beschreibt die Vernichtung der Juden im Ghetto von Tarnopol in den Jahren 1943 und 1944. Salomea Luft wurde selbst Opfer des Holocaust. In immer neuen Ansätzen versucht sie, das Unfassliche des Geschehens mitzuteilen, dessen Zeugin und Opfer sie war.

Christine Berndt bat verschiedene Personen, diesen Brief, dessen Inhalt ihnen zuvor unbekannt war, zu lesen, wobei die Auswahl des Ortes, an dem sie lesen wollten, ihnen selbst überlassen war. Eine starre Videokamera und ein Mikrophon registrierten die Reaktionen der Lesenden im Verlauf der Lektüre, während welcher die Künstlerin nicht anwesend war.

Die Arbeit „Der Brief der Jüdin“ besteht aus einer Videoprojektion, in welcher alle acht Sequenzen aufeinanderfolgen. Die Reaktionen der Lesenden sind sehr unterschiedlich: Jener Person, die es sich in ihrem Lieblingssessel gemütlich gemacht hatte, wird sehr schnell klar, dass ihre Position dem Gegenstand der Lektüre völlig unangemessen ist; andere Personen verleihen ihrem Mitleiden unmittelbar Ausdruck, während weitere Lesende dieses Mitleiden stoisch durchstehen.

Das Unfassliche des Geschehenen, das die Autorin Salomea Ochs immer wieder betont, findet seine Entsprechung in der Tatsache, dass in den projizierten Videos die gefilmten Personen zunächst mit ihnen Unbekanntem konfrontiert wurden; desweiteren, dass der Betrachter der Videos selbst zunächst nichts darüber weiß, welchen Inhalts das Dokument ist, dass die Lesenden in Händen halten. Ihm bleibt die Ursache der Reaktionen der Lesenden solange verborgen, bis er sich die Mühe macht, sich am Museumseingang oder an der Rezeption eine Kopie jener Transkription des Briefes selbst zu holen und sich jener Erfahrung auszusetzen, welcher die Lesenden sich aussetzten. Diese Anstrengung, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was die Personen denn hier lesen, muss der Ausstellungsbesucher selbst unternehmen; andernfalls, so glaube ich, bleibt ihm jeder Zugang zur Arbeit von Christine Berndt verschlossen.
Die darauf folgende Frage ist aber, ob sich die bestimmte historische Tatsache, die ja den Ausgangspunkt für Berndts Arbeit darstellte, dann erschließt, wenn wir den Brief gelesen haben und von nun an verstehen, woher die Seufzer rühren, die jene Frau, die kaum mehr ihre Tränen zurückhalten kann, ausstößt. Oder ob jenes Faktum, welches der Brief der Salomea Ochs schildert und auf dem „Der Brief der Jüdin“ fußt, nicht weiterhin unfassbar bleibt?

Auffällig an „Der Brief der Jüdin“ ist die Vielzahl der Übersetzungen, die zwischen dem Brief und dem gezeigten Werk liegen: Da ist der Brief, der handschriftlich verfasst wurde, durch die Hände eines russischen und eines deutschen Offiziers ging, transkribiert wurde, verschwand, wiederentdeckt wurde, jenen Lesenden übereignet wurde, die von Christine Berndt angefragt wurden, und in hermetischer Einsamkeit eine Form der Anteilnahme erlebt, die der Betrachter zwar konstatieren, aber nicht verstehen kann, solange er sich nicht die Mühe macht, dieses Dokument selbst in die Hand zu nehmen.
Die Qualität der Arbeit von Christine Berndt liegt darin, dass sie über all diese Übersetzungen den Betrachter wieder zu einer Ursprünglichkeit der Empfindung zurückführt, die aus dem Sujet resultiert: der Empfindung, einem Unfassbaren gegenüberzustehen. Unter ethischen oder moralischen Gesichtspunkten unfassbar zu sein, eignet den geschilderten Ereignissen und ist Thema des Briefes. In gewisser Weise klärt „Der Brief der Jüdin“ über nichts anderes auf als über die Verschlossenheit und Opakheit dessen, was Geschichte genannt wird. Das Unfassbare ist gewissermaßen das Charakteristikum, das sich auf allen Stufen des Werkes (auf der Ausgangsstufe des Briefes, seiner verwickelten Geschichte, der Unklarheit bezüglich dessen, was denn auf dem Video zu sehen ist) wiederfindet. Die Arbeit ist frei sowohl von dem unerträglichen Zeigefinger, der uns darauf hinweisen will, dass wir doch nur richtig zu lesen bräuchten, um die Geschichte zu verstehen, als auch frei von jedem (wohl noch schwerer erträglichen) Voyeurismus. Auf formaler Ebene unprätentiös und klar, entwickelt die Arbeit in ihrer inhaltlichen Komplexität eine ungeheure Wucht. Diese ist eine der Erschütterung und der Trauer; Trauer nicht nur über die Schicksale, die in dem Brief geschildert werden, sondern auch über die Irreversibilität von Geschichte.

Eine Bodenarbeit ohne Titel reißt auf ähnlich unprätentiöse Art und Weise einen Riss in unsere Selbstgewissheit, dass wir doch nur richtig zu lesen und zu deuten hätten, um uns des Vergangenen zu vergewissern und es einordnen zu können. Mit Zimmermannsnägeln hämmerte Christine Berndt in Blindenschrift einen Satz aus der Rede des deutschen Schriftstellers Martin Walser zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 in den Boden: „Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz.“
Die Rede Martin Walsers rief eine Welle der Empörung hervor, weil der Autor, in einem Wust allerlei selbstverliebten Geredes, die „Dauerpräsentation unserer Schande“ als „Instrumentalisierung zu gegenwärtigen Zwecken“ bezeichnete und für sich das Recht auf das Wegschauen reklamierte. Gleichgültig, ob Walser missverstanden wurde oder nicht, zum Verständnis von Christine Berndts Arbeit ist es unerlässlich zu wissen, dass die Rede Walsers äußerst kontrovers diskutiert wurde.
Der an sich äußerst klare und deutliche Satz wird nun durch Christine Berndt in einem Code, der Braille-Schrift, wiedergegeben, dessen die meisten Menschen nicht mächtig sind. Zugleich enthält der Satz ein Wort, „Auschwitz“, welches wie kein anderes für die Verbrechen der Nazis steht: die ultimative Pathosformel der Bundesrepublik, an Wucht nicht zu vergleichen.
Indem Christine Berndt diesen Satz in Blindenschrift in den Boden nagelt, reflektiert sie einerseits auf die Unklarheit des Kontextes, in dem Walsers klarer Satz steht, und stellt sich andererseits zum Pathos der Aussage quer: kein flammendes Bekenntnis, sondern eine fast unscheinbare Form im Boden, deren Bedeutungsgehalt zunächst völlig unklar ist. Doch hat man den Inhalt der Schrift erfasst, entfaltet die Arbeit eine ganze Reihe schwer erträglicher Anmutungen und Empfindungen. Das Feld aus Nägeln zu betreten, wird fast unmöglich, als käme es einer Schändung gleich. Das Einhämmern des Satzes in den Boden des Ausstellungsraums gleicht einer Tätowierung, und so deutlich der Gedanke ist, Auschwitz könnte der Geschichte der Deutschen eingeprägt sein auf eine unvergleichbare und unauslöschliche Weise, so unklar ist bei der weiteren Assoziation an die Tätowierungen der KZ-Opfer, ob eine solche Querverbindung statthaft sei; ob man beide Arten des Gezeichnetseins denn in Beziehung setzen darf oder ob nicht dadurch den Opfern Unrecht getan wird, indem man irgendetwas von dem, was ihnen zugefügt wurde, mit irgendetwas anderem vergleicht oder auch nur in Relation dazu setzt. Oder aber beraubt die Singularität von Auschwitz, über die im sogenannten Historikerstreit debattiert wurde, es zugleich seiner Relevanz, macht Auschwitz zu einem Monolithen, zu einem hermetischen Block, aus dem auf undurchsichtige Art und Weise „Lehren“ gezogen werden sollen? Oder verschwindet nicht hinter der häufig missbrauchten Pathosformel, welche bei allzuvielen Gelegenheiten bemüht wurde, „Auschwitz“, das uns allen geläufig ist, so dass wir uns kaum mehr darum bemühen müssen herauszufinden, was es war?
Aus diesen Aporien entlässt Christine Berndt den Betrachter nicht in eine irgendwie geartete Lösung. Was an Adornos 1951 in „Kulturkritik und Gesellschaft“ veröffentlichter Diagnose von der Unmöglichkeit von Gedichten nach Auschwitz die eigentliche Tragik darstellt, ist nicht die Unmöglichkeit von Gedichten nach Auschwitz, sondern das Infiziertsein dieser Erkenntnis durch die Barbarei selbst. So schwer zu sagen wäre, wie der Virus des Barbarischen der Vernunft auszutreiben, so schwer ist zu sagen, wie der Schmerz, den Christine Berndt in das Bewusstsein hebt, zu lindern sei. Trotz und wegen der absoluten Vermitteltheit, der offenbaren Verborgenheit, der offenkundig absoluten Unfassbarkeit des Faktums „Auschwitz“ brennt das Mal. Das Tattoo kriegen wir nicht wieder weg.
„Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“